Prof. Dr. Lutz Götze
1. Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit ist der Regelfall in den europäischen Staaten und, mehr noch, in den meisten Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Bis auf Portugal, Island, Liechtenstein und San Marino gibt es in Europa keine sprachlich einheitlichen Staaten; die Länder mit den meisten Sprachen hingegen liegen außerhalb Europas. Einer Statistik von Ethnologue zufolge wird in nur acht Ländern der Welt die Hälfte aller Sprachen gesprochen: Papua-Neuguinea (832), Indonesien (731), Nigeria (515), Indien (400), Mexiko (295), Kamerun (295), Australien (267) und Brasilien (234) (www.ethnologue.com).
Was für Staaten zählt, gilt im Allgemeinen auch für Individuen: Die Mehrzahl der Menschen ist zwei- oder mehrsprachig. Monolinguale sind eher die Ausnahme. Es lässt sich auch sagen: Einsprachigkeit ist heilbar!
Freilich ist dieser Reichtum an Sprachen auf dem Globus gefährdet. Derzeit wird von etwa 6000 lebenden Sprachen ausgegangen, von denen lediglich einige Hundert auch geschrieben werden. Die nicht kodifizierten Sprachen sind am stärksten vom Aussterben bedroht: Etwa die Hälfte, so die Schätzungen, wird während der nächsten hundert Jahre verschwinden. Alle zwei Wochen geht eine Sprache unter, scheinbar unausweichlich trotz bestehender Sprachenschutzregelungen. Am stärksten betroffen vom Linguozid ist Australien. Die Sprachen der Ureinwohner wie Pijinjanjara und andere werden von immer weniger Menschen gesprochen.
Wenn man davon ausgeht, dass eine Sprache nur überleben kann, wenn sie von mindestens 100.000 Menschen gesprochen wird – aber etwa 3000 Sprachen, also 50% der Sprachen der Welt, werden von weniger als 10.000 Menschen gesprochen –, so sind die düsteren Prognosen nachvollziehbar.
In Deutschland leben drei antochthone Minderheiten: die Sorben, Dänen und Friesen. Ihre Sprachen genießen Minderheitenschutz.
Daneben lebten und leben seit dem Beginn der Migrationsbewegungen heterochthone Minderheiten ohne besonderen rechtlichen Schutz in Deutschland: die französischen Hugenotten im 17. Jahrhundert in Preußen, die polnischen Bergarbeiter im 19. Jahrhundert im Ruhrgebiet und die Wanderarbeitnehmer in der Bundesrepublik seit den 50-er Jahren: Italiener, Griechen, Jugoslawen, Spanier, Portugiesen, Türken und maghrebinische Araber. Die bei weitem größte Gruppe darunter sind die Türken mit etwa zweieinhalb Millionen Bürgerinnen und Bürgern im Jahre 2003. Nicht vergessen werden sollten schließlich Vietnamesen und Kubaner, die zur Arbeit in die Deutsche Demokratische Republik geholt wurden. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt.
2. Ist Deutschland ein mehrsprachiges Land?
Die Sprachen(-en)politik in Deutschland wird vor allem von drei Faktoren beeinflusst:
– der europäischen Integration
– der deutschen Einigung im Jahre 1989 sowie
– der Migrationsbewegung
2.1 Europäische Integration
In mehreren Erklärungen des Europarates und auch in der Charta der Europäischen Grundrechte wird die Mehrsprachigkeit als Prinzip und Ziel der Gemeinschaft bezeichnet. So heißt es im Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe aus dem Jahre 2002:
« On interprètera donc le plurilinguisme non seulement comme devant assurer une meilleure communication entre Européens avec le reste du monde, mais comme moyen de développer la sensibilité interculturelle et comme composante intrinsèque de la citoyenneté démocratique européenne» (Beacco/Byram 2002 ;12) .
Europa muss sich anstrengen, um diesen Forderungen zu entsprechen. Der Guide macht unmissverständlich klar, dass gehandelt werden müsse, um ein Europa der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zu entwickeln, ansonsten würden Ökonomie und Marktdiktat das Zepter übernehmen: Neben den jeweiligen Landessprachen würde einzig das Englische als europäische lingua franca bestehen bleiben. Der Guide setzt hingegen auf ein Europa des Geistes und der kulturellen Diversität, nicht auf die Wirtschaft:
« Le plurilinguisme est à considérer sous ce double aspect: il fonde une conception du sujet parlant, comme étant fondamentalement pluriel et il constitue une valeur an tant qu`il est le fondement de la tolérance linguistique, élément capital de l`éducation interculturelle et à l`altérité» (ibid. :16).
Ein Europäer der Zukunft sollte danach mehrsprachig und damit offen für die Vielfalt der Kulturen des Kontinents sein, Toleranz gegenüber den Nachbarn und Vertretern außereuropäischer Kulturen üben und zum Dialog fähig sein. Die Förderung von Mehrsprachigkeit wird aber darüber hinaus als Mittel zur Identitätsstiftung verstanden, einer Identität freilich, die transnational ist und damit die Enge der nationalen Definitionen des 19. Jahrhunderts überwindet:
« La question des langues constitue l´un des aspects de la problématique concernant la création d´un sentiment d´appartenance à une même communauté, fondé non sur une identité supranationale, mais sur le concept politique de citoyenneté démocratique en Europe »(ibid :75).
Programmatische Worte, die freilich der Verwirklichung harren. Derzeit scheint der Zug eher in die entgegengesetzte Richtung zu fahren; so nimmt in Deutschland insgesamt die Zahl der Sprecher von Drittsprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch u.a.) ab statt zu, im Nachbarland Frankreich erleidet das Deutsche ein ähnliches Schicksal.
2.2 Die deutsche Einigung
Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 veränderte sich auch die Sprachenlandschaft in Deutschland, zumal an den allgemeinbildenden Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Die in der Deutschen Demokratischen Republik obligatorische erste Fremdsprache – das Russische – wurde über Nacht aus dem Kanon der Schulsprachen verbannt und fristet seither im Osten Deutschlands ein trostloses Dasein. Ähnlich erging es den Nachbarsprachen Polnisch und Tschechisch: Nur wenige Schülerinnen und Schüler zwischen Stralsund und Chemnitz lernen heute noch die Sprachen der Slavia; die englische Sprache erfreut sich uneingeschränkter Attraktivität. Die Sprachen der Wanderarbeiter – Vietnamesisch, Koreanisch oder karibisches Spanisch – wurden ohnehin nie beachtet, brauchten also 1989 auch nicht abgeschafft zu werden.
Die Sprachen der europäischen Migranten wie das Türkische oder Griechische spielen im Osten Deutschlands auch fünfzehn Jahre nach der Einigung eine verschwindend geringe Rolle, so dass – zumindest aus der Sicht des östlichen Teiles Deutschlands – das Urteil gerechtfertigt ist, das da lautet, die Einigung habe dem Ziel der Pflege und des Erhalts mehrerer Sprachen in Deutschland eher geschadet als genützt. Man mag das für irrelevant oder gar angesichts des historischen Phänomens der deutschen Einigung für zynisch halten: Die Tatsachen sprechen für sich.
2.3 Die Migrationsbewegung
Seit 1955 wurden – zunächst in Italien, später auf der iberischen Halbinsel sowie in der Türkei – ausländische Arbeitnehmer angeworben, die in seither drei bzw. vier Generationen den materiellen Wohlstand der Bundesrepublik erheblich beförderten. Die sprachlichen und sozialen Probleme der, wie es damals hieß, Gastarbeiter (ein Widerspruch in sich, denn wo sonst auf der Welt lässt man Gäste arbeiten?) wurden als geringfügig erachtet oder nicht zur Kenntnis genommen: Man ging davon aus, dass die Arbeiter nach wenigen Jahren und ohne Familie in Deutschland wieder in ihre Heimat zurückkehrten und durch neue Arbeiter ersetzt würden – analog dem Rotationssystem in der Schweiz. Diese Hoffnung hat sich als realitätsfern erwiesen: Die Arbeiter holten ihre Familien nach und blieben in Deutschland: dem Herkunftsland entfremdet und im doppelten Wortsinn heimatlos.
Max Frisch sprach damals das prophetische Wort:
Man hat Arbeiter ins Land gerufen und Menschen sind gekommen.
Bundes- und Länderregierungen haben dieses Problem bis heute ignoriert: Ihre Schaukelpolitik – hie Integration, dort Rückkehrförderung – hat das Land in immer dramatischere Konflikte gestürzt. Anstatt den Inländern ohne Pass, die längst keine Migranten mehr sind, Angebote der gleichberechtigten Teilhabe an öffentlichen Entscheidungen durch Zuerkennung des Wahlrechts und weitere rechtliche Regelungen zu machen, werden die Minderheiten Jahr für Jahr vertröstet und mit Versprechungen hingehalten. Was Wunder, dass extremistische Gruppierungen unter türkischen Jugendlichen Zulauf haben!
Im Schuljahr 2002/2003 besuchte nahezu eine Million Schüler mit fremdem Pass die allgemeinbildenden Schulen in Deutschland: etwa zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Freilich sind sie unterschiedlich auf die Schulen verteilt: An Gymnasien waren sie mit lediglich vier Prozent, an den Hauptschulen hingegen mit achtzehn Prozent vertreten. Bedrückend aber ist vor allem, dass zwanzig Prozent aller Nichtmuttersprachler – die, obwohl im Regelfall hier geboren, von der Mehrzahl der Deutschen immer noch Ausländer genannt werden – ihre jeweilige Schule ohne Abschlussexamen verlassen. Die Gründe liegen vor allem in den sprachlichen Problemen und ungenügender Förderung, daneben aber an einer Didaktik, die monolingual deutsch ist und die Herkunftssprachen Türkisch, Italienisch, Serbisch oder Spanisch bis heute nicht zur Kenntnis nimmt.
3. Sprache der Mehrheit – Sprachen der Minderheiten
Natürlich gibt es seit Jahrzehnten Fördermaßnahmen für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch die hier lebenden Minderheiten: von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, doch allesamt nicht ausreichend. Ein Überblick des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft vom September 2003 weist zahlreiche Aktivitäten aus (http://www.good-practice.de/schwerpunktbeitrag907php): Hausaufgaben- und Lernhilfen bundesweit, umstrittene, weil separierende Sprachklassen in Bayern, vorschulische Sprachförderkurse in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, Lesekurse in Berlin und manches mehr. Dass der durchschlagende Erfolg dennoch bis heute ausgeblieben ist – was unter anderem die PISA-Studie nachgewiesen hat–, liegt aber weniger an den nicht ausreichend engagierten Schülern und Lehrern oder etwa am unzulänglichen Lehrmaterial, sondern an Entscheidungen auf der politisch-juristischen Ebene einerseits sowie Fehlern bei der Lehrerausbildung andererseits.
Auf der politisch-juristischen Ebene rächt sich vor allem die bereits erwähnte Schaukelpolitik, die bis zum derzeitigen Streit um ein Einwanderungsgesetz anhält: Warum sollen sich Inländer ohne Pass Deutschkenntnisse aneignen, wenn ihre Zukunft in Deutschland ungewiss ist? Trotzdem lernen vor allem jene Türken und anderen Minderheiten Deutsch, die einen deutschen Pass erworben haben: Sie bauen auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland und haben damit dem Migrantendasein abgeschworen. Für viele Passbürger, zumal junge muslimische Frauen, bedeutet freilich dieser Schritt die häufig schmerzliche Trennung von den traditionalistischen Eltern, die bis zur radikalen Trennung von der oder dem Verstoßen durch die Familie führt. Der auf der Berlinale 2004 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film Gegen die Wand des Hamburger Türken Fatih Akin erzählt eine solche Geschichte.
Die in Deutschland lebenden Minderheiten sind also, von Ausnahmen vor allem in der ersten und zweiten Generation abgesehen, mehrsprachig, häufig sogar viersprachig: Ein kurdischer Türke erwirbt das Kurdische als Erstsprache, lernt Türkisch als Verkehrssprache in der Türkei und im türkischen Ghetto in Deutschland, erwirbt und lernt das Deutsche als Zweitsprache und lernt schließlich Englisch als vierte Sprache, an der er freilich häufig scheitert. Viele lernen Sprachen im Übrigen häufig keineswegs nur aus materiellen Motiven, sondern weil sie die deutsche Sprache und manche Eigenschaften der Deutschen schätzen, ja: lieben. Umso bitterer empfinden sie ihr nach wie vor verordnetes Ausgeschlossensein von allen wichtigen Dingen des öffentlichen Lebens.
Mit der Mehrheit hier zu Lande, den Deutschen also, sieht es bei den Sprachen weniger erfreulich aus: Zwar lernen nahezu alle Kinder und Jugendlichen Englisch, doch nur Wenige bringen es zu wirklicher Beherrschung des angelsächsischen Idioms. Sogar an der Universität lehrende Professoren und Dozenten, die im Zuge der vermeintlich die Internationalität und Attraktivität von zumindest naturwissenschaftlichen Studiengängen hebenden Ausbildungschancen ihre Veranstaltungen auf Englisch anbieten, tun dies allzu häufig um den Preis tief schürfender Reflexion und Argumentation: Ihr Englisch entspricht nicht dem Niveau ihrer Muttersprache Deutsch; entsprechend einfacher gestrickt sind dann die Darlegungen im Kolleg.
Weit schlechter aber sieht es mit der zweiten Fremdsprache aus, die von zahlreichen Organisationen wie dem Fachverband Moderne Fremdsprachen oder Bildungsministerien als verbindlich für alle Schultypen in Deutschland gefordert wird. Französisch, Italienisch oder Russisch: Diese wie weitere Drittsprachen fristen an deutschen Schulen ein Schattendasein. Sowohl die Bereicherung durch Nachbarsprachen – Deutschland ist das Land mit den meisten Nachbarschaften in Europa – wie auch Modelle der Bilingualen Erziehung haben in der Vergangenheit keine durchschlagende Wirkung erzielt und blieben im Regelfall auf einzelne Reformschulen beschränkt. Das Konzept eines interkulturellen Lernens als wechselseitige Lern- und Bildungschance von Mehrheit und Minderheiten ist zwar theoretisch gut reflektiert und aufgearbeitet, die Praxis des Unterrichts hat sich dem aber bislang wenig geöffnet (Pommerin 2001: 973ff.)
Die deutschsprachige Bevölkerung aber lernt Englisch als erste und, im Regelfall, einzige Fremdsprache. Noch schmählicher freilich als den Nachbarsprachen ergeht es den Begegnungssprachen, also den Sprachen der hier lebenden heterochthonen Minderheiten: Türkisch, Spanisch, Italienisch, Serbisch, Kroatisch und Griechisch. Allenfalls das Spanische erfreut sich einer gewissen Beliebtheit, die restlichen Sprachen der Migranten werden immer seltener gelernt, zumal nach der deutschen Einigung 1989. Am unerfreulichsten ist die Situation des Türkischen: Nur wenige zehntausend Deutsche lernen bundesweit Türkisch; an der Universität des Saarlandes sind im Herbst 2003 die Türkisch-Kurse eingestellt worden. Dies ist ein Akt von Fremdenfeindlichkeit: Eine Universität, die in Sonntagsreden ihren internationalen und Völker verbindenden Charakter nicht müde wird zu betonen, eliminiert die Sprache der wichtigsten und an Zahl größten Minderheit aus ihrem Fächerkanon.
Diese Politik der Ignoranz und Provinzialität findet ihre Fortsetzung in der Ausbildung von Lehramtsanwärtern in Deutschland. Egal, ob es sich um angehende Lehrerinnen und Lehrer des Deutschen, Englischen, Spanischen, Italienischen und Russischen oder der Sachkundefächer wie Physik, Biologie, Geschichte oder Geographie handelt: Sie werden allesamt an den Hochschulen ausgebildet, als träten sie später vor eine Klasse, die ausschließlich aus deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern besteht. Sofern in den Lehrveranstaltungen überhaupt didaktische Fragen wie Vermittlungsstrategien, Ursachen von Lernschwierigkeiten und deren Überwindung, Übungstypologien oder Lehrwerkanalyse und –kritik behandelt werden, gelten die Rezepturen einer Wirklichkeit, die es an deutschen Schulen seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. In den Klassen, zumal der Hauptschulen, sind häufig sechs oder mehr Erstsprachen vertreten. Die Studentinnen und Studenten aber erfahren während ihres universitären Studiums selten oder nie, wie man schöne Literatur des Deutschen, Englischen oder Italienischen sowie Probleme der Mathematik, Geographie und Geschichte auch Kurden, Türken, Sizilianern oder Italienern aus dem Veneto, schließlich Russlanddeutschen oder polnischen Spätaussiedlern vermitteln kann. Es gibt dafür zwar theoretische und praktische Erörterungen und Hinweise in Hülle und Fülle (Helbig/Götze u.a. (Hg.):2001), aber die Lehrerausbildung in Deutschland nimmt wenig oder nichts davon zur Kenntnis.
Entsprechend deprimierend sind die Leistungen vieler Lehrender, das Scheitern selbst engagierter Referendare ist nahezu vorprogrammiert. Die an den meisten Universitäten aus Traditionsbewusstsein oder Starrsinn gepflegte Lehrerausbildung für einen einsprachigen einsprachigen Adressatenkreis widerspricht nicht nur der mehrsprachigen und multikulturellen Wirklichkeit unserer Schulen, sondern stellt junge Lehrende vor schier unlösbare Aufgaben, an denen sie häufig verzweifeln. Die Ausbildung ist aber auch unverantwortlich gegenüber dem Steuerzahler: Auch Türken und Griechen zahlen schließlich hier zu Lande Steuern und haben ein Recht zu verlangen, dass ihre Kinder optimal ausgebildet werden.
4. Fazit und Verbesserungsvorschläge
Deutschland ist also de facto kein Land, dessen Bevölkerung mehrsprachig ist, obwohl die Bedingungen dafür besser nicht sein könnten: zahlreiche Sprachen an den Grenzen im Norden, Süden, Osten und Westen, dazu mindestens sechs Sprachen ethnischer Minderheiten im Inneren des Landes. Die Chance der Mehrsprachigkeit und damit das Angebot zum besseren Verstehen zwischen Kulturen sowie dem Abbau von Stereotypen und Vorurteilen werden schlecht genutzt.
Hier helfen keine neuen Lehr- und Lernstrategien, und seien sie auch noch so gut gemeint. Hilfreich sind eher schon Hinweise auf die besseren Berufschancen, die mit der Kenntnis mehrerer Sprachen in einem sich erweiternden Europa verbunden sind, ja, die Einsicht, dass kommende Generationen ohne die Beherrschung mehrerer europäischer und außereuropäischer Sprachen am Arbeitsmarkt chancenlos sein werden.
Notwendig aber ist ein konzeptionelles Umdenken. Für Deutschland wie für die anderen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft sollte unverrückbar gelten, dass dieser Kontinent eine Einheit in der Vielfalt ist: Aus dem griechisch-römischen Erbe Kraft schöpfend, von Humanismus, Renaissance und Aufklärung geprägt und damit einer gemeinsamen Wurzel entstammend und zugleich verpflichtet, haben sich in Europa multikulturelle und mehrsprachige Gesellschaften herausgebildet, die nicht mehr durch Grenzen getrennt, sondern durch Sprachen als dem wichtigsten Teil der Kulturen verbunden sind. Der Europäer der Zukunft wird also mehrsprachig und multikulturell sein, oder er wird kein Europäer sein! Wenn dieses Postulat, das auch den Forderungen des Europarates entspricht, in allen Ländern der Union verwirklicht wird, führt Europas Weg nicht in die Enge und das Dogma der englisch dominierten Einsprachigkeit. Geschieht das freilich nicht, droht Europa ein kultureller Abstieg in das einsprachig Seichte und Oberflächliche, wie es die kulturelle Szene Nordamerikas jedes Jahr dramatischer vorführt. Europas Weg aber muss ein anderer sein: der über zweitausendjährigen Geschichte, dem Ideenreichtum früherer Gelehrter und Generationen verpflichtet und die Enge nationalstaatlichen Denkens und national definierter Kulturen überwindend. Daraus würde zumal Deutschland Nutzen ziehen.
Literatur
– Beacco, J.-C. / M. Byram (2002): Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe. De la diversité linguistique á l’éducation plurilingue. Version intégrale, septembre 2002. Conseil de l’Europe, Division des Politiques linguistiques. Strasbourg
– Helbig, Gerhard/ Götze, Lutz u.a. (Hg.) (2001):Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 2 Halbbände. Berlin und New York
– http://www.ethnologue.com (2004)
– http://www.goodpractice.de/schwerpunktbeitrag907php (2003)
– Pommerin-Götze, Gabriele (2001) : Interkulturelles Lernen. In : Helbig, Gerhard / Götze, Lutz u.a. (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 2. Halbband. Berlin und New York